Über das Verlieren von Räumen
Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum 1969
Über das Verlieren von Räumen
Gibt es „verlorene“ Orte, und wenn ja, was hat man darunter zu verstehen? Um dieser Frage aus Sicht der kulturwissenschaftlichen Raumforschung nachgehen zu können, bietet es sich an, drei unterschiedliche Aspekte des Verlorengehens zu untersuchen:
1. Die Art der Negation, die in dem „Verlorensein“ impliziert ist;
2. Die spezifische Zeitlichkeit des Verlorenseins;
3. Die Frage, wer bzw. was eigentlich verloren geht, wenn ein Ort verlorengeht.
Die letzte Frage ist dabei die grundsätzlichste: Wenn man einen Gegenstand verliert, zumal wenn er wichtig ist, bemerkt man das meistens recht schnell und macht sich auf die Suche nach ihm; nach verloren gegangenen Personen wird, zumindest wenn sie von jemandem vermisst oder für eine bestimmte Tat verantwortlich gemacht werden- gesucht oder gefahndet; aber wer merkt eigentlich, wenn Orte verloren gehen, sofern Orte überhaupt verloren gehen können? Natürlich geht es, wenn man von verlorenen Orten spricht, nicht um das Verschwinden eines physischen Raumes, sondern um Veränderungen von kulturell, durch „Raumpraktiken“ geschaffenen oder produzierten Orten; möglicherweise aber auch um die Wahrnehmbarkeit von Orten. Wenn sich ein solcher kulturell geschaffener Ort verändert oder ganz aus der Wahrnehmung verschwindet, handelt es sich vielleicht um einen grundlegenderen Verlust als beim Verlorengehen von Objekten oder Personen im Raum.
Um das kulturelle Gedächtnis für verlorene Orte zu stützen, wird zunehmend versucht, Inventare verschwindender Orte, etwa in den sich wandelnden politischen Geographien Europas, zu erstellen. Fährt man über Stadt und Land, um solche Orte ausfindig zu machen und sie zu dokumentieren, könnte es einem aber durchaus so gehen wie dem Schriftsteller und Journalisten Vetle Lid Larssen auf der Suche nach dem angeblich überlieferten Eingang zur Hölle in Nordnorwegen: An einem Ort ganz am Rand Europas, der zunehmend von seinen Bewohnern verlassen wird, verschwindet auch die Erinnerung der wenigen verbleibenden Personen an das, was sie vielleicht einst erschreckt hat: Das Loch in der Erde, das die Menschen dazu gebracht haben mag, alle Hoffnung fahren zu lassen, ist im Begriff, selbst aus der Erinnerung zu verschwinden, so fern es niemanden mehr gibt, der es identifizieren kann – künftig verweist es nur noch auf seine eigene Bedeutungsleere. Daher muss zu den drei bereits skizzierten Fragen, eine vierte und letzte Frage hinzutreten: Wie kann, im Unterschied zu den alternativen Formen des Erinnerns beim Reisen und schreiben, ausgerechnet eine Dokumentation verlorener Orte dem Verlorengehen Einhalt gebieten?
Auszug von Jörg Dünne aus Lost Places- Orte der Photographie; 2012